Als ich 2020 als Scrum Trainer startete, musste ich eine folgenschwere Entscheidung treffen.
Bis zur Pandemie war der Markt für Scrum Trainings größtenteils lokal. Jeder Trainer hatte „sein“ Revier: München, Hamburg, Berlin. Was bedeutete: Wer zuerst da war, gewann. Denn das Schulungsgeschäft funktioniert über Empfehlungen. Und je mehr Schulungen du in einer Stadt gibst, desto mehr wirst du empfohlen. Also:
„The winner takes it all.“
Ich stellte mir also die Frage: In welcher Stadt wollte ich Trainings anbieten? Ich recherchierte auf der Seite von Scrum.org. In München gab es bereits einige Trainer. In Stuttgart auch. Selbst Nürnberg war vergeben.
Wie könnte ich mir da noch ein Stück vom Kuchen sichern?
Mein erster Gedanke:
Ich gehe nach München, das ist in der Nähe. Dann besuche ich viele Meet-ups, schalte Werbung und unterbiete meine Konkurrenz im Preis. Dann erinnerte ich mich an die zwei Gazellen aus meinem Studium.
Genauer gesagt an eine Geschichte aus der Spieltheorie:
Zwei Gazellen leben in der afrikanischen Savanne. Es ist Trockenzeit. Parasiten und Zecken machen ihnen das Leben schwer – vor allem an Stellen, die sie allein nicht erreichen. Würden sich die Gazellen gegenseitig putzen, dann wären sie gesünder. Putzt nur eine Gazelle die andere, kann es überspitzt formuliert ihr Leben kosten. Denn Putzen bedeutet, Zeit und Energie aufzubringen, die ihr dann nicht mehr für die Nahrungssuche zur Verfügung stehen, ohne eine Gegenleistung zu erhalten.
Wie sollte sich die Gazelle also entscheiden?
Gehen wir nochmal alle Möglichkeiten durch:
- Wenn beide putzen, geht es beiden besser.
- Wenn eine putzt und die andere nicht, verliert die eine Energie, die andere profitiert.
- Wenn keine putzt, bleiben beide voller Parasiten.
Jede Gazelle steht also vor der Entscheidung:
- Kooperieren: Ich putze die andere Gazelle.
- Nicht kooperieren: Ich putze nicht. Jeder ist auf sich allein gestellt.
Die Erkenntnis aus diesem Dilemma lautet:
Rationales Eigeninteresse – ich putze nicht – führt zwar zu einer schlechteren Gesamtlösung, aber es ist das risikoärmere Vorgehen. Lieber keine Zeit und Energie verschwenden, wenn ich nicht sicher sein kann, dass ich davon auch profitiere.
Würde ich der Mathematik glauben, dann wäre mein erster Gedanke das logisch bessere Vorgehen: mit anderen Trainern in Konkurrenz zu treten.
Wahrscheinlich stellst du dir aber mittlerweile die Frage:
Was hat das mit Stakeholdermanagement zu tun?
Dazu kommen wir jetzt.
Wenn wir ehrlich sind, dann gleicht Stakeholdermanagement doch im Kern der Situation der beiden Gazellen in der lebensfeindlichen Savanne.
Du erkennst es an Gedanken wie diesen:
- „Wenn ich den Stakeholder gewähren lasse, tanzt er mir morgen auf der Nase herum.“
- „Wenn ich heute zu nachgiebig bin, erhalte ich bestimmt noch die Quittung.“
- „Ich muss mich vorher absichern.“
Und deshalb liest du auch überall den gängigen Rat:
„Als Product-Owner musst du lernen, nein zu sagen.“
Aber was, wenn wir dabei etwas übersehen haben?
Kann es sein, dass Product-Owner, die vorschnell nein sagen, etwas falsch machen?
Kann es sein, dass die Entscheidung, viele Meet-ups zu besuchen, Werbung zu schalten und die Konkurrenz im Preis zu unterbieten, doch falsch ist? Kann es sein, dass Projektmanager, die sich vorab erstmal absichern wollen, das Risiko doch nicht reduzieren?
Ja, wir haben etwas übersehen.
Denn Gazellen laufen sich in der Savanne normalerweise regelmäßig über den Weg. Und das Gleiche gilt auch fürs Stakeholdermanagement. Es handelt sich um ein sich wiederholendes Dilemma mit unzähligen kleinen Entscheidungen, Gesten, Absprachen, Missverständnissen und Wiedergutmachungen. Getreu dem Motto:
Man sieht sich immer zweimal im Leben.
Was die Frage aufwirft:
Welche Strategie funktioniert am besten, wenn sich die Gazellen immer wieder treffen?
Diese Frage wollte in den 1980er-Jahren auch der Politikwissenschaftler Robert Axelrod beantworten.
Dazu veranstaltete er ein Computerturnier, in dem er Computerprogramme mit verschiedenen Strategien gegeneinander antreten ließ. Oder in anderen Worten: Er wollte wissen, ob „nicht kooperieren“ dann immer noch die beste Strategie darstellt, wenn sich Gazellen regelmäßig treffen. Wissenschaftler aus der ganzen Welt reichten ihre Programme ein, um am Wettbewerb teilzunehmen.
Das verblüffende Ergebnis:
Die denkbar einfachste Strategie besiegte alle anderen. Du kennst sie bestimmt unter dem Namen: „Wie du mir, so ich dir.“ Sie besteht aus zwei einfachen Regeln:
- Beginne freundlich. (Kooperiere im ersten Zug.)
- Spiegele das Verhalten des anderen: Hat der andere zuletzt kooperiert, dann kooperiere. Hat er nicht kooperiert, dann kooperiere nicht.
Diese Strategie war so erfolgreich, weil sie vier zentrale Eigenschaften vereinte:
- Freundlichkeit – sie beginnt kooperativ.
- Vergeltung – sie lässt sich nicht ausnutzen.
- Klarheit – ihr Verhalten ist vorhersehbar.
- Versöhnung – nach einem schlechten Zug wird sofort wieder kooperiert, wenn der andere es auch tut.
Solltest du „Wie du mir, so ich dir“ nun auch im Management von Stakeholdern nutzen?
Lieber nicht.
Denn „Wie du mir, so ich dir“ hat einen entscheidenden Nachteil: Es kann zum „Krieg“ führen.
Hier ein Beispiel:
Der Product-Owner bemüht sich, die wichtigsten Stakeholder einzubinden – er verschickt regelmäßig Updates, lädt zu Reviews ein, bittet aktiv um Feedback. Eines Tages erfährt er zufällig, dass der Vertriebsleiter direkt beim Entwickler im Team einen „schnellen Fix“ beauftragt hat. Der Product-Owner fühlt sich hintergangen und lädt den Vertriebsleiter nicht zum Review ein, in dem der Fix vorgestellt wird. Der Vertriebsleiter ist verärgert und fordert beim Leiter der Entwicklung „mehr Einfluss auf die Roadmap“. Und die Eskalation nimmt ihren Lauf ...
Beim Management von Stakeholdern sollten wir etwas großzügiger sein, ein Missverständnis verzeihen und erst auf den zweiten „Verrat“ mit Härte reagieren.
Deshalb ist das beste Vorgehen „verzögerte Vergeltung“.
- Starte kooperativ.
- Spiegle Verhalten. Zeige, dass du nicht ausgenutzt werden willst.
- Verzeihe. Gib Menschen die Chance, sich wieder anzunähern.
- Bleib klar. Mach deine Spielweise transparent.
Dieses Vorgehen bestätigte Axelrod in weiteren Turnieren als die beste Strategie. Und sie beginnt nicht damit, nein zu sagen, sondern damit, freundlich zu starten und Vertrauen zu schenken. Und deshalb entschied ich mich damals nicht dafür, in Konkurrenz mit den Trainern in München zu gehen, sondern dafür, auf sie zuzugehen und sie zu fragen, ob ich ihr Co-Trainer sein darf. Da ich nun seit fünf Jahren zusammen mit Peter und Marc Trainings in München gebe, kann ich bestätigen:
Freundlich zu starten ist die erfolgreichste Verhaltensstrategie, die wir kennen.
Deshalb ist Stakeholdermanagement kein Machtspiel, das du gewinnen musst.
Sondern ein Beziehungsspiel, das du gestalten kannst. Verzögerte Vergeltung hat bereits mehrfach den Frieden bewahrt. Denke nur an ihre zentrale Rolle im Kalten Krieg. In der heißen Phase galt die Doktrin der gegenseitigen Abschreckung.
Beide Seiten wussten:
„Wenn ich dich angreife, schlägst du zurück – mit voller Kraft.“
Viele Historiker sagen heute: Gerade, weil beide Seiten nicht aggressiv, sondern vorhersehbar und berechenbar reagierten, konnte der schlimmste Fall vermieden werden.
Wie du Stakeholderbeziehungen mit dieser Strategie aktiv gestaltest, lernst du bei uns im „Professional Scrum Product Owner – Advanced“-Training – Schritt für Schritt, mit vielen Übungen und Beispielen.