„Ich habe mich den ganzen Tag über gehetzt gefühlt.“
So lautet ein weniger erfreuliches Feedback nach meinem letzten Strategie-Workshop. Da der Workshop zum großen Teil mit Liberating-Structures gestaltet war, habe ich mich an meinen Meister gewandt. Wenn es um Liberating-Structures geht, ist das Barry Overeem. Barry hat Liberating-Structures und Scrum zusammengebracht. Mit der Frage, wie ich es schaffen kann, dass sich Teilnehmer in meinen Workshops weniger gehetzt fühlen, bin ich nach Amsterdam zum „Liberating Structures Immersion Workshop“ gereist. Eine Antwort habe ich erhalten – und viele weitere Einsichten. Davon will ich dir heute berichten.
Los geht’s mit der ersten Erkenntnis:
Einsicht #1: Liberating-Structures sind mehr als Moderationsmethoden
Liberating-Structures werden häufig – zu Unrecht – als reine Methoden zur Facilitation von Meetings gesehen.
An der Oberfläche mag das zutreffen. Impromptu-Networking, 1-2-4-All, Shift & Share und 25/10 wirken zunächst wie frische Ideen, um Gruppen zum Austausch zu bewegen. Damit stehen sie im starken Kontrast zu den leider häufig (noch) üblichen Meeting-Formaten: unstrukturierte Diskussionen, Präsentationen und Statusberichte. Nutzen wir als Facilitator Liberating-Structures, bewirkt das nicht selten ein Umdenken – in der Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden und wer Verantwortung übernimmt. Dieses Umdenken zeigt sich auch im Widerstand, den sie mitunter hervorrufen – etwa, wenn sich Menschen verloren, gehetzt oder vom großen Ganzen abgeschnitten fühlen.
Denn die Verantwortung,
- Ideen und Einsichten zu erzeugen,
- Entscheidungen zu treffen und
- nächste Schritte eigenständig zu gehen,
liegt bei der Verwendung von Liberating-Structures bei jedem Einzelnen. Das macht sie so radikal anders, wenn wir an traditionelle Entscheidungsprozesse in Unternehmen denken. Damit nehmen Liberating-Structures uns die Möglichkeit, anderen die Schuld zuzuweisen, die Notwendigkeit, uns zu rechtfertigen, oder das Gefühl, verpflichtet zu sein. Indem sie die nächsten Schritte in die Hand jedes Einzelnen legen, sind Liberating-Structures ein sehr mächtiges Werkzeug in Veränderungsprozessen. Was ich dabei oft vergesse: Veränderung stößt nicht bei allen auf Gegenliebe. Zu jeder Veränderung gehören auch Kräfte, die das Bestehende bewahren wollen. Das macht Liberating-Structures wirkungsvoll – und gleichzeitig anspruchsvoll in der Anwendung.
Das wurde mir noch einmal bewusst, als wir im Workshop auch ungewöhnliche Strukturen wie den STAR-Kompass genutzt haben.
Einsicht #2: STAR-Kompass für bessere Beziehungen
Wie lassen sich Muster in Beziehungen aufdecken?
Welche sind hilfreich und welche vielleicht sogar schädlich? Hierzu habe ich in Amsterdam eine neue Struktur kennengelernt. Sie heißt STAR-Kompass. Wie ein Kompass hilft sie Gruppenmitgliedern zu verstehen, was ihre Beziehungen mehr oder weniger produktiv macht.
Wobei STAR hierfür steht:
- S wie Separateness: Wie unterschiedlich sind wir als Gruppe? Schaffen wir es, die verschiedenen Sichtweisen der Mitglieder wahrzunehmen?
- T wie Tuning: Wie sehr sind wir aufeinander abgestimmt?
- A wie Action: Wie oft agieren wir gemeinsam?
- R wie Reason: Wie wichtig ist es, dass wir zusammenarbeiten? Wie klar ist unsere Zielsetzung?
Der Kompass kann in einer ersten Diagnose genutzt werden und später dazu beitragen, den Fortschritt bei der Entwicklung produktiverer Beziehungen zu messen.
Aus meiner Sicht perfekt für jegliche Retrospektiven. Ich habe das Konzept bereits einmal ausprobiert und bin dabei in diesen vier Schritten vorgegangen:
- Lade jedes Mitglied des Teams ein, auf einer Skala von 1 bis 5 die STAR-Achsen zu bewerten.
- Im Anschluss visualisiert ihr alle Bewertungen, indem jede Person ihre Punkte entlang der Kompassachsen setzt.
- Lade dann das Team ein, zu ergründen, welche Muster in der Zusammenarbeit auftreten. Was sagt etwa das Ergebnis: „viel Handlung, aber wenig Abstimmung“, über die Produktivität des Teams aus?
- Zum Schluss bittest du das Team, Verbesserungen für den nächsten Sprint zu identifizieren. Ich habe dazu gefragt: „Welche ersten Schritte sollten wir jetzt gehen, um im nächsten Sprint noch produktiver zusammenzuarbeiten?“
Der STAR-Kompass ist ein super Gegengewicht zu üblichen Retrospektiv-Formaten, die eher auf Prozesse schauen und dabei schnell die Beziehungsebene vernachlässigen. Er kommt sicherlich auf die Top-5-Liste meiner Retrospektiven-Formate, die ich im Artikel „Meine 5 Lieblings-Retrospektiven – und wie du dich als Scrum Master verbesserst“ ausführlich erklärt habe.
Was uns zur letzten Erkenntnis für heute bringt:
Einsicht #3: Ist Vielfalt produktiver als Einigkeit?
Wenn du an Liberating-Structures denkst, woran denkst du?
Wenn es dir wie mir geht, dann denkst du zuerst an 1-2-4-All. Für mich steht nichts mehr für die Befreiung aus herkömmlichen Meeting-Formaten als 1-2-4-All. Wenn ich Meetings facilitiere, dann lasse ich mich meist vom Modell des divergenten und konvergenten Denkens leiten. Dieses Modell teilt Meetings in zwei Phasen:
Beispiele für die divergente Phase:
- Alternativen generieren
- Frei fließende, offene Diskussion
- Sammeln verschiedener Perspektiven
- Aussetzen von Urteilen
Beispiele für die konvergente Phase:
- Alternativen bewerten
- Zusammenfassung der wichtigsten Punkte
- Kategorisierung von Ideen
- Beurteilung von Lösungen
Somit ist 1-2-4-All ideal für die divergente Phase.
Mehr noch: Es ermöglicht mir als Facilitator, diese Phase mit wenig Aufwand einzuleiten und zu gestalten. 1-2-4-All macht mein Leben als Facilitator leichter. Die konvergente Phase ist für mich hingegen eine größere Herausforderung. Hier geht es darum, dass sich alle im Team zu einer Entscheidung durchringen.
Oder doch nicht?
Diese Frage stelle ich mir, seit ich in Amsterdam 1-2-4-All auf den Kopf gestellt kennengelernt habe – als 4-2-1-SNAP.
Falls du – wie ich vor kurzer Zeit – 4-2-1-SNAP nicht kennst, hier die Schritte im Detail:
- 4: Vierergruppen teilen ihre wichtigsten Erkenntnisse, Eindrücke oder Ergebnisse. Nutzt dabei: „Ja, genau! Und außerdem …“
- 2: Die Gruppen spalten sich in Zweiergruppen auf. Diskutiert zu zweit: „Was war für euch am wichtigsten?“
- 1: Jede Person denkt still für sich nach: „Was willst du dir merken? Was willst du nicht vergessen? Was willst du jetzt tun?“
- SNAP: Zum Schluss: „Schließe die Augen und stelle dir deine Handlung bildlich vor. Und nun sprecht mir nach: 4, 2, 1 … Schnipp!“
Der Fingerschnipp hilft dabei, die Handlung nicht zu vergessen.
Zurück zur Frage: Muss sich das Team immer auf eine Handlung einigen?
In vielen Fällen bestimmt. Etwa bei der Entscheidung, welches Ziel im nächsten Sprint verfolgt wird. Es hilft dem Team, auf Kurs zu bleiben, sich auszurichten und Fokus zu erzeugen.
Allerdings gibt es Situationen, in denen wir entstehende Möglichkeiten wahrnehmen, parallel ausprobieren und Unterschiede zulassen wollen. Und genau das ermöglicht 4-2-1-SNAP. Es lädt jedes Gruppenmitglied ein, eine eigene Entscheidung zu treffen und loszulaufen. Vielleicht braucht es genau das am Ende einer Retrospektive: sich nicht krampfhaft auf eine Sache festzulegen, sondern jedem den Raum zu geben, eine eigene Lösung zu finden.
Mit dieser Frage ging für mich der zweite Tag des Workshops zu Ende.
Fazit: Was ich mitnehme – und warum ich bald wiederkommen werde
Ursprünglich war ich mit der Frage gestartet, wie ich mit diesem Feedback umgehe:
„Ich habe mich den ganzen Tag über gehetzt gefühlt.“
Von Barry habe ich mir eine ganze Reihe von Kniffen abgeschaut, wie sich die Anleitung von Liberating-Structures entschleunigen lässt. Mein Highlight war ein Impromptu-Networking mit der Einladung:
„Diskutiere in den nächsten 12 Minuten mit unterschiedlichen Personen die Frage …“
Darüber hinaus habe ich den Workshop mit vielen Erkenntnissen und neuen Fragen zu Komplexitätsdenken und Veränderungsprozessen verlassen.
Wenn das auch für dich interessant klingt, dann lege ich dir Barrys „Liberating Structures Immersion Workshop“ ans Herz. Der nächste findet am 15. und 16.12.2025 in Amsterdam statt. Da es jedes Mal andere Themen gibt, spiele ich selbst mit dem Gedanken, noch einmal zu kommen. Denn am zweiten Tag geht es beim nächsten Mal um:
„The State of (Zombie) Scrum“