Wie viele versteckte Blocker übersiehst du in deinem Stand-up?
9 von 10 Scrum Mastern sorgen im Daily-Stand-up dafür, dass jeder die Kamera anhat, das Scrum Board aktualisiert wird und jedes Teammitglied berichtet, woran es heute arbeitet. Kurzfristig mag das hilfreich fürs Team sein. Aber bereits im nächsten Sprint sind die Probleme wieder da. Susi hat die Kamera wieder aus. Das Scrum Board kann die Realität nicht abbilden, da mehr Themen in Bearbeitung sind, als das Team Mitglieder hat. Und Tom rechtfertigt sich seit geschlagenen fünf Minuten, warum er gestern den Bug 456 nicht fixen konnte.
Die eigentlichen Probleme kommen so nicht zum Vorschein.
Kann es sein, dass das Team gleich drei Ziele in diesem Sprint verfolgt? Ist das Team vielleicht nicht wirklich cross-funktional, sondern besteht es nur aus Entwicklern und Testern, aber niemand kann das UI entwerfen? Kommen die Teammitglieder nicht zum Arbeiten, weil sie ständig durch Meetings, „Dauert nicht lange“-Anfragen oder „Firefighting“-Notfälle abgelenkt werden? Kann das Team eigenständig nichts fertigstellen, da es ewig darauf warten muss, bis das Testteam seine Arbeit verrichtet hat?
Woran könnte das liegen?
Nur wenige Scrum Master kennen das Geheimnis eines produktiven Daily Scrums.
Eines Daily Scrums, in dem jedes Wort zählt.
Mit einem Sprint-Backlog, der eine Prognose zulässt, ob das Team das Sprint-Ziel erreichen wird. Ein Daily Scrum, in dem bereits nach zehn Minuten klar ist, wer heute mit wem an was arbeiten wird. Erfolgreiche Scrum Master denken wie Ärzte. Anstatt vorschnell die Symptome zu behandeln, also Arzneien gegen Husten, Schnupfen und Fieber zu verschreiben, machen sie sich erst an die Ursachenforschung. Was veranlasst den Husten? Warum läuft die Nase so stark? Warum könnte der Patient so hohe Temperatur haben? Erst wenn sie wissen, ob es sich um eine Erkältung, Grippe oder gar eine Lungenentzündung handelt, behandeln sie diese.
Willst du wie ein Arzt erst auf Ursachenforschung gehen, bevor du wahllos am Daily Scrum herumdokterst?
Dann habe ich in diesem Artikel fünf Werkzeuge, die dir dabei helfen. Ach, und wenn ich von Werkzeugen spreche, dann meine ich nicht Jira, Excel oder Azure DevOps. Ich meine zeitlose Werkzeuge, mit denen du die Motivation hinter den Handlungen im Team aufdecken kannst.
Beginnen wir mit dem wichtigsten Werkzeug für Scrum Master:
Werkzeug #1: Einsichten aus Beobachtungen
Verwechselst du manchmal Sehen mit Denken?
Dann geht es dir wie mir. Kürzlich kamen Teammitglieder zu mir und sagten: „Simon, das Stand-up jeden Tag abzuhalten ist Zeitverschwendung. Wir slacken doch eh den ganzen Tag und sehen uns in Meetings.“ Dann schlugen sie mir vor, das Stand-up nur noch jeden zweiten Tag zu machen. In dieser Situation springt schnell ein Gedankenkarussell an: „Das ist nicht mehr Scrum! Wie sollen wir jetzt unsere tägliche Zusammenarbeit koordinieren? Was ist, wenn wir deshalb das Sprint-Ziel nicht erreichen?“ Schnell vermischen sich Tatsachen mit Interpretationen. Und wir ziehen voreilige Schlüsse, treffen überstürzt Maßnahmen und verspielen vielleicht das Vertrauen im Team.
Damit mir das nicht mehr passiert, hilft mir diese Frage:
Angenommen, ich würde mit einer Kamera die Situation filmen, was wäre zu sehen? Was geschieht, wer ist anwesend, wann findet die Szene statt, was wird gesagt?
Diese Frage hilft dabei, nicht vorschnell Symptome zu behandeln, ohne die eigentliche Krankheit zu kennen. Beobachtung von Interpretation zu trennen, ist das wichtigste Werkzeug, um den Ursachen auf den Grund zu gehen.
Aber woher wissen wir, dass wir nichts übersehen haben?
Werkzeug #2: Erkenntnisse aus Retrospektiven
Was ist die wichtigste Aufgabe unseres Gehirns?
Uns am Leben zu erhalten. Deshalb lässt unser Gehirn rund um die Uhr automatische Überlebensprogramme laufen. Eines dieser Programme ist die Vorhersage. Unser Gehirn versucht vorherzusagen, was als Nächstes kommt. Wir wollen keine Überraschungen. Denn Überraschungen könnten uns umbringen.
Du glaubst mir nicht?
Dann erinnere dich an deinen letzten Spaziergang. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du dich nicht an das Vogelgezwitscher im Park erinnerst, aber an das Auto, das dich am Zebrastreifen fast überfahren hätte, schon. Okay, vielleicht war es kein Beinahe-Tod, aber vielleicht irgendetwas anderes Unerwartetes. Etwas, das dein Gehirn so nicht hat kommen sehen.
Worauf will ich mit dem Beispiel hinaus?
Wenn wir nur auf unser Gehirn vertrauen, dann übersehen wir schnell Dinge. Wir sehen nur die offensichtlichen Symptome, aber übersehen die versteckten Gründe, die dazu führten. Deshalb solltest du als Scrum Master bei der Ursachenforschung, warum das Daily Scrum nicht produktiv ist, auch immer andere Gehirne miteinbeziehen. Hierfür kannst du beispielsweise die Retrospektive nutzen. Wenn ihr euch über die Probleme dieses Sprints austauscht, dann stelle Fragen, um das Problem aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Sorge dafür, dass sich auch andere Gehirne damit beschäftigen, – vielleicht hast du etwas übersehen und das kommt so ans Licht.
Hier eine Liste von Fragen dafür:
- Was wissen wir jetzt? Was sollten wir noch hinterfragen?
- Wer war beteiligt? Wer ist von der Situation noch betroffen?
- Wo ist die Situation aufgetreten?
- Wann ist die Situation aufgetreten? Handelt es sich dabei um das erste Mal?
- Warum ist die Situation aufgetreten?
- Wozu ist die Situation von Bedeutung? Was wird dadurch ermöglicht?
- Wie kann die Situation verbessert werden?
Diese Fragen werden dir helfen, damit dein Gehirn nichts übersieht.
Werkzeug #3: Trends aus Umfragen
Ich will ehrlich mit dir sein:
Ich bin ein riesiger Fan von Umfragen. Umfragen liefern nicht nur viele Daten, sondern wenn sie anonym sind, auch realitätsnähere. Darüber hinaus benötigt die Erhebung der Informationen nur wenig Zeit. Mich wundert es immer, dass so wenige Scrum Master regelmäßige Umfragen nutzen. Aus meiner Sicht ist es ein einfacher und zeitsparender Weg, Einsichten in die „Gesundheit“ des Teams zu gewinnen.
Willst du dieses Werkzeug nutzen?
Dann empfehle ich dir, dich am Spotify Health Check zu orientieren. Die Fragen dort bieten einen guten Startpunkt für deine Umfrage.
Es werden diese Themen abgefragt:
- Einfache Freigabe
- Technische Qualität
- Schnelligkeit
- Unterstützung
- Moral
Die Quantifizierung der Umfrage erfolgt dann mit Skalen. So kann die technische Qualität zum Beispiel von: „Wir sind stolz auf die Qualität unseres Codes! Er ist sauber, leicht zu lesen und hat eine gute Testabdeckung“, bis hin zu: „Unser Code ist ein Haufen Mist und die technische Schuld gerät außer Kontrolle“, bewertet werden.
Ich führe diese Umfragen jeden Sprint vor der Sprint-Retrospektive durch. Zum einen hat das Team dann gleich etwas zum Diskutieren in der Retrospektive, zum anderen erhalte ich wertvolle Informationen, was tiefergehende Probleme sein könnten.
Diese Umfrage misst vor allem die Entwicklererfahrung. Willst du weitere Hindernisse deines Teams finden, dann solltest du mehr Daten über den Erfolg deines Teams sammeln.
Werkzeug #4 Fakten aus Metriken
Wie lässt sich der Erfolg eines Scrum Teams messen?
Diese Frage ist für die Ursachenforschung, warum das Daily Scrum nicht produktiv ist, oder allgemein, warum das Team nicht produktiv arbeitet, ungemein wichtig. Denn in ihrer Beantwortung liegt auch die Quelle vieler Hindernisse der Teams. Probleme, die das Team daran hindern, erfolgreich zu sein, lassen sich durch die Messung des Teamerfolgs entlarven.
Viele Scrum Master schrecken davor zurück, den Erfolg ihres Teams zu messen.
Die Angst ist groß, dass die Umfrage bei den Entwicklern auf Ablehnung stößt. Dass dem Scrum Master unterstellt wird, der verlängerte Arm des Managements zu sein und das Team in dessen Namen auszuspionieren. Diese Sorgen kann ich gut nachvollziehen – sie führen auch dazu, dass der Scrum Master selbst daran gemessen wird.
Aber die Realität ist leider:
Wenn Scrum Master nicht den Erfolg ihres Teams und somit ihre Arbeit messbar machen, dann macht es jemand anderes. Und das endet aus meiner Erfahrung immer mit dem Vorwurf, dass die Velocity nicht steigt. Wenn du diesem Vorwurf entgehen willst, dann empfehle ich dir, frühzeitig den Erfolg deines Teams quantifizierbar zu machen. Dies ermöglicht dir zum einen, die Arbeit des Teams transparent zu machen, und zum anderen, verborgene Hindernisse zu finden. Fragst du dich jetzt, wie du dabei vorgehen sollst?
Dann empfehle ich dir, einen Blick auf das „Evidence-based Management“-Framework zu werfen. Das Framework wurde genau dafür geschaffen. Hier findest du einen Überblick über die vier Bereiche, die den Erfolg deines Teams beschreiben:
Wenn du nach Unterstützung bei der Umsetzung suchst, dann besuche meine nächste „Professional Agile Leadership – Evidence-based Management“-Schulung. Dort dreht sich alles um die Beantwortung der Frage: Wie kann ich messen, dass Scrum für unser Team und Unternehmen Wert stiftet?
Lass uns kurz innehalten.
Damit du als Scrum Master nicht jeden Sprint aufs Neue nur Symptome behandelst, die dein Team daran hindern, produktiv zu arbeiten, solltest du auf Ursachenforschung gehen. Hierfür kannst du Beobachtungen sammeln, Erkenntnisse aus Retrospektiven auswerten, Trends aus Umfragen nutzen und Tatsachen aus Metriken gewinnen.
Zum Abschluss habe ich ein Werkzeug für dich:
Werkzeug #5 Perspektiven aus Gesprächen
Dieses Werkzeug ist so wichtig.
So wichtig, dass ich es auch jedem fortgeschrittenen Scrum Master im „Professional Scrum Master – Advanced“-Training im Abschnitt über Organisationsveränderung ans Herz lege.
Es fußt auf einer einfachen Tatsache über Organisationsveränderung:
Wie lassen sich Organisationen verändern? Mit einem Gespräch nach dem anderen.
Das Werkzeug, welches dabei hilft, ist das Empathy Map Canvas. Es hilft dir, die Welt durch die Augen deines Gegenübers zu sehen und dadurch auch andere Realitäten zu erkennen. Diese Realitäten helfen dir, andere Perspektiven auf die Hindernisse und Probleme deines Teams einzunehmen.
Das Canvas leitet dich dabei an, indem es dir diese Fragen stellt:
- Um wen geht es? (Situation, Rolle)
- Was sollte diese Person tun? (Aufgaben, Verantwortungen, Entscheidungen)
- Was sieht sie? (direktes Umfeld, Kollegen, Unternehmen, Markt)
- Was sagt sie? (Aussagen, geschriebene Kommunikation)
- Was tut sie? (Verhalten, Aufgaben)
- Was hört sie? (Kollegen, Vorgesetzte, Teammitglieder, Medien)
- Was denkt und fühlt sie? (Ängste, Frustrationen, Träume, Wünsche, Motivationen)
Nutze die Fragen des Canvas, um die „Probleme“ im Daily Scrum mit den Augen der Entwickler oder des Product-Owners zu sehen. Dies wird dir helfen, den wirklichen Ursachen, warum das Daily Scrum heute mal wieder so unproduktiv war, näher zu kommen.