Heute geht es um die Sprint-Retrospektive.
Willst du dieses Meeting verbessern, musst du es besser facilitieren. Allerdings gebe ich dir keine Liste mit 25 Techniken zur besseren Moderation – die brauchst du noch nicht.
Was du zunächst brauchst, ist ein Verständnis für Psychologie.
Du musst wissen, welche Fehler sich bei der Entscheidungsfindung in Teams einschleichen. Besonders in Retrospektiven führen sie dazu, dass Teams schlechte Entscheidungen treffen. Die Meinung Einzelner wird überschätzt. Es wird zu sehr auf die Weisheit der Gruppe vertraut. Außerdem werden die Fähigkeiten des Teams überschätzt.
Beginnen wir mit dem ersten Fehler:
Fehler #1: Darauf zu vertrauen, dass Teams immer bessere Entscheidungen treffen
Treffen Gruppen bessere Entscheidungen als Einzelpersonen?
Die überraschende Antwort lautet: Nein. Noch schlimmer – genau das Gegenteil ist der Fall.
Michael Diehl und Wolfgang Ströbe von der Universität Tübingen haben herausgefunden, dass
- Einzelpersonen härter arbeiten.
- Einzelpersonen in der Gruppe häufig ihre Ideen vergessen, weil sie warten müssen, bis sie an der Reihe sind.
- sich die Leistung der Gruppe tendenziell an die Leistung der schwächsten Mitglieder anpasst.
Ich kann mir vorstellen, was du jetzt denkst: „Aber Brainstorming in der Gruppe fühlt sich doch viel produktiver an?“
Es ist nicht produktiver – es fühlt sich nur müheloser an.
Wenn Einzelpersonen viele Ideen erzeugen wollen, müssen sie härter arbeiten. Niemand unterstützt sie, wenn sie feststecken und ihnen keine neuen Ideen mehr einfallen. Brainstormt hingegen eine Gruppe gemeinsam, beflügeln sich die Mitglieder gegenseitig. Das erzeugt den Eindruck, weniger häufig festzustecken und deshalb schneller vorwärtszukommen.
Die Wissenschaftler bezeichnen dieses Phänomen als die Illusion der Gruppenproduktivität.
Wie kannst du diese Erkenntnis für deine Sprint-Retrospektive nutzen?
Hier mein Vorgehen:
Anstatt zu fragen: „Was lief in diesem Sprint gut?“,
stelle ich die Frage so: „Jeder für sich und ohne zu sprechen – bitte schreibt die Antwort auf diese Frage auf einen Notizzettel: Was lief in diesem Sprint gut?“
Der Unterschied mag marginal erscheinen. Nicht sofort zu diskutieren, sorgt aber dafür, die positiven Aspekte von Brainstorming zu nutzen.
Was uns zum nächsten Fehler bringt:
Fehler #2: Teams vor „ob oder ob nicht“-Entscheidungen stellen
Was charakterisiert eine Entscheidung?
Baruch Fischhoff, Professor an der Carnegie Mellon University, hat zusammen mit seinen Kollegen 105 Mädchen im Teenageralter befragt, welche Entscheidungen sie in der jüngsten Vergangenheit getroffen haben. Dabei fiel ihm etwas Merkwürdiges auf.
Wenn du so tickst wie ich, denkst du bei Entscheidungen an Situationen, in denen du zwischen zwei oder mehr Möglichkeiten wählen musst. Will ich heute Pizza oder Nudeln essen? Welche Schuhe ziehe ich zur Arbeit an? Nehme ich das Auto, den Bus oder mein Fahrrad?
Allerdings hatten die Entscheidungen der Teenager selten diese Wahlmöglichkeit. Als Baruch Fischhoff diesem Phänomen auf den Grund ging, erkannte er, dass die meisten Entscheidungen der Teenager Entscheidungen ohne echte Alternativen waren. Also Entscheidungen der Art:
„Ich entscheide, ob ich heute zur Schule gehe oder nicht.“
Fischhoff bezeichnet diese Art von Entscheidung als „ob oder ob nicht“-Entscheidung – und sie machte 65 % aller Entscheidungen der Teenager aus.
Was ist das Problem mit „ob oder ob nicht“-Entscheidungen?
Sie schränken die Perspektive stark ein.
Andere Möglichkeiten werden gar nicht erst in Erwägung gezogen. Und wenn wir nicht alle relevanten Informationen haben, führt dieser Mangel an Alternativen schnell zu Fehlentscheidungen.
Wie kannst du die Erkenntnis von Baruch Fischhoff für deine Retrospektive nutzen?
Klingt erstmal banal, aber anstatt sich bei einzelnen Verbesserungen von der Frage „ob“ oder „ob nicht“ leiten zu lassen, sollten wir uns fragen:
„Welche dieser Verbesserungen sollten wir umsetzen?“
Eine Retrospektive, die dieser Frage folgt, wird zwangsläufig zu besseren Ergebnissen führen. Sie zwingt das Team nämlich, verschiedene Möglichkeiten zu analysieren und die beste Option zu wählen.
Und eines sollten wir nie vergessen: Das „Beste“ ist in dem Kontext, in dem Scrum Teams sich bewegen, immer relativ.
Was uns zum letzten Fehler bringt:
Fehler #3: Sich als Team überschätzen und Entscheidungen nur auf „Best Cases“ stützen
Wie entscheiden Menschen eigentlich?
In seinem Bestseller Schnelles Denken, langsames Denken beschreibt Daniel Kahneman, wie wir Entscheidungen treffen. Nach Kahneman nutzen wir zwei Systeme:
System 1: Das ist das System, das wir 95 % der Zeit nutzen – und worauf wir uns verlassen, wenn wir schnelle Urteile fällen. Diese „No-Brainer“-Entscheidungen leiten sich aus unseren früheren Erfahrungen und von unseren Instinkten ab. Wir verlassen uns auf die Entscheidungsmuster von System 1, um unvollständige Informationen mit etwas zu vervollständigen, das uns logisch erscheint.
Das Denken von System 1 ist leistungsfähig und effizient. Es kombiniert Millionen von Erinnerungen zu einer schnellen Reaktion.
Allerdings ist schnelles Denken auch fehleranfällig – besonders in komplexen und unsicheren Situationen.
System 2: Das zweite System ist rational, analytisch und eine zuverlässigere Art, Entscheidungen zu treffen. Dennoch nutzen wir unser Gehirn nur bei etwa 5 % unserer Entscheidungen auf diese Weise.
Ein paar Beispiele, wo du System 2 sehr wahrscheinlich eingesetzt hast:
- Beim Ausfüllen des Elster-Formulars für die Steuererklärung.
- Beim Rückwärts- und Paralleleinparken in eine enge Parklücke im Feierabendverkehr.
- Bei der Entscheidung, ob du deine Tante in den USA jetzt anrufen solltest – oder ob du sie damit wecken würdest.
Wie kannst du diese wissenschaftlichen Erkenntnisse nutzen, damit dein Team bessere Entscheidungen trifft?
Das verrate ich dir jetzt.
Hindere das Team daran, „schnell zu denken“. Oder anders gesagt: Hilf den Teammitgliedern, „langsam zu denken“.
Hierzu kannst du diese Fragen nutzen:
- Was wäre, wenn wir dieses Problem nicht angehen?
- Was wäre, wenn wir dieses Problem angehen?
- Was wäre, wenn wir diese Verbesserung umsetzen?
- Was wäre, wenn wir diese Verbesserung nicht umsetzen?
- Was wäre, wenn wir stattdessen eine andere Verbesserung umsetzen?
Was haben diese Fragen gemeinsam?
Alle Fragen beginnen mit „Was wäre, wenn …“ – und genau das lädt zur Analyse und Szenarioplanung ein. Und bei dieser Art zu denken – du wirst es erraten haben – nutzen wir System 2.
Bewahre die Szenarien und Analysen auf. Diese Prognosen kannst du später mit den tatsächlichen Ergebnissen vergleichen. Mir fällt dabei immer wieder auf, wie maßlos wir uns selbst überschätzen. Sei es, wie positiv wir die Auswirkungen einer Verbesserung einschätzen. Oder wie schlimm ein Problem tatsächlich ist, das wir zuvor kaum ernst genommen haben. Dieser Effekt wird in der Wissenschaft als „Overconfidence Bias“ bezeichnet.
Indem du den Effekt sichtbar machst, hilfst du deinem Team, langfristig schwierige Situationen realistischer einzuschätzen.
Jetzt kennst du die gängigen Fehler, die in Retrospektiven zu schlechteren Entscheidungen führen.
Und erst jetzt solltest du die passende Facilitation-Methode wählen – nicht andersherum.
Leider wählen viele Scrum Master zuerst eine Methode und wundern sich dann, warum die Retrospektive keine guten Ergebnisse liefert. Woher ich das weiß? Ich war lange Zeit auch einer dieser Scrum Master.
Aber nach 10 Jahren als Scrum Master habe ich mittlerweile verstanden, dass die Auswahl der passenden Methode so getroffen werden sollte, dass sie gängige Fehler in der Entscheidungsfindung reduziert.
Hier findest du 18 Methoden zur Auswahl.